Wieso nicht das Neutrum verwenden?

Im Zuge der Diskussion über geschlechtsneutrale Formen kommt immer wieder der Vorschlag auf, das sächliche grammatische Geschlecht, das sogenannte Neutrum, für geschlechtsneutrale Formen zu verwenden (also unter anderem den Artikel das). Der wohl bekannteste Vorschlag dieser Art ist das Entgendern nach Phettberg, bei dem geschlechtsneutrale Substantive die Endung -y erhalten und im Neutrum stehen, zum Beispiel das Lehry und das Arzty. Es gibt auch den Vorschlag, die bisher maskuline Grundform im Neutrum zu verwenden (z. B. das Lehrer) und für die männliche Bedeutung eine neue Form (z. B. der Lehrerich oder der Lehrerun) einzuführen. Des Weiteren ist es auch theoretisch denkbar, die von uns empfohlene Form für geschlechtsneutrale Substantive mit dem Neutrum statt dem von uns vorgeschlagenen Inklusivum zu verbinden: das Lehrere.

Obwohl das Neutrum den Vorteil hätte, die Notwendigkeit eines neuen Genus zu umgehen, sehen wir mehrere signifikante Probleme bei der Verwendung des Neutrums für geschlechtsneutrale Personenbezeichnungen, wegen derer wir uns nicht für eine derartige Lösung aussprechen können. Auf dieser Seite werden diese Probleme erläutert.

Zwar gibt es schon eine Handvoll im Neutrum verwendeter Personensubstantive (die häufigsten sind wohl Mitglied, Mädchen, Kind und Opfer), allerdings hat das Neutrum für viele einen versächlichenden, entmündigen Beigeschmack, wenn es außerhalb dieser Substantive für Personen verwendet wird. Viele gender-noncomforming Personen haben schon die Erfahrung gemacht, dass ohne ihre Einwilligung im Neutrum über sie gesprochen und damit eine Erniedrigung intendiert wurde. Die meisten personenbezeichnenden Neutra sind entweder Verkleinerungsformen (Mädchen, Fräulein) oder beziehen sich auf Kinder (Kind, Baby), auf eine passive Rolle mit negativer Konnotation (Opfer) oder sind nicht nur Personenbezeichnungen, sondern auch für Dinge oder Organisationen verwendbar (Mitglied, Gegenüber). Diese eingeschränkte Verwendung des Neutrums in Personenbezeichnungen ist sicher einer der Gründe dafür, dass die Erweiterung des Neutrums auf geschlechtsneutrale Personenbezeichnungen auf viele Menschen einen versächlichenden oder entmündigenden Eindruck macht.

Ein weiteres Problem tritt bei substantivierten Adjektiven wie Bekannte(r), Jugendliche(r), Deutsche(r) und Erste(r) auf. Hier werden die femininen Formen (die Bekannte, die Jugendliche, die Deutsche usw.) ausschließlich für weibliche Personen verwendet, die maskulinen Formen (der Bekannte, der Jugendliche, der Deutsche usw.) bei der Benennung einer konkreten Person allgemein nur, wenn die Person männlich ist. Wenn das Neutrum statt des von uns empfohlenen Inklusivums für geschlechtsneutrale Personensubstantive verwendet würde, müssten hier Formen wie das Bekannte, das Jugendliche, und das Deutsche verwendet werden. Diese Formen haben aber schon eine gänzlich andere Bedeutung: das Bekannte bezieht sich auf ein bekanntes Konzept oder Ding, nicht auf eine bekannte Person; das Jugendliche auf die Qualität des Jugendlich-Seins, nicht auf eine jugendliche Person; das Deutsche auf die deutsche Sprache, nicht auf eine deutsche Personen. Das Neutrum kann in bestimmten Kontexten also sogar zu Missverständnissen führen. Diese Bedeutung von substantivierten Adjektiven im Neutrum ist außerdem ein weiterer Hinweis darauf, wieso das Neutrum als versächlichend empfunden wird.

Bei der Deklination des Neutrums kommt noch ein weiteres Problem zum Vorschein: Im Genitiv und Dativ gibt es keine Unterscheidung zwischen dem Neutrum und dem Maskulinum. Bei einem Ausdruck wie „mit einem Bekannten dieses Jugendlichen“ wäre gar nicht erkennbar, das hier zweimal das Neutrum und nicht das Maskulinum intendiert ist. Auch bei Pronomen wie dieser/dieses und jeder/jedes tritt dieses Problem auf: „Wenn ich diesem mehr zahle, muss ich jedem mehr zahlen.“ Besonders schwerwiegend ist dieses Problem, wenn das Neutrum mit der bisher maskulinen Grundform verbunden werden soll (z. B. das Lehrer), da dieses Problem dann nicht nur bei substantivierten Adjektiven und bei Pronomen wie dieses und jedes auftritt, sondern bei praktisch allen geschlechtsneutralen Substantiven. In diesem Fall tritt auch nicht nur im Genitiv und Dativ ein Problem auf, sondern bei Artikeln des ein-Paradigmas auch im Nominativ: Bei ein Lehrer, ihr Nachbar und kein Arzt ist nicht erkennbar, dass diese Formen im Neutrum statt im Maskulinum stehen sollen.

Des Weiteren ist es kaum denkbar, dass der Mangel eines geschlechtsneutralen Personalpronomens durch die Verwendung des Neutrums, also des Pronomens es, gelöst werden könnte. Viele nichtbinäre Personen fühlen sich mit es als Pronomen nicht wohl, und gerade diese Personen benötigen ein geschlechtsneutrales Personalpronomen am dringendsten. Aber auch wenn es um das Personalpronomen in generischen Aussagen geht (z. B. „Wenn jemand das sieht, wird er mir Bescheid sagen.“), könnte es Probleme bereiten, unter anderem da die häufige Platzhalter-Funktion von es zu Mehrdeutigkeiten in Sätzen wie dem folgenden führen könnte: „Wenn jemand dieses Lehrbuch liest, ohne die Übungsaufgaben zu bearbeiten, wird es nicht so weit kommen.“ Des Weiteren tritt auch hier das Problem auf, dass es bei der Dativform ihm keinen Unterschied zwischen Neutrum und Maskulinum gibt. Auch die Possessivform des Personalpronomens lautet im Neutrum und Maskulinum gleich, und zwar sein.

All diese Gründe zusammengenommen sprechen aus unserer Sicht dafür, die Einführung des Inklusivums gegenüber der Verwendung des Neutrums zu bevorzugen. Außerdem haben wir Anfang 2021 in einer öffentlichen Umfrage zu geschlechtsneutralem Deutsch die Beliebtheit des Neutrums als geschlechtsneutrale Alternative ermittelt, wobei diese Option unter den Teilnehmernen der Umfrage signifikant unbeliebter war als diejenige, ein neues Genus mit entsprechend neuen Artikel-Deklinationen einzuführen. Auf einer Notenskala von 1 („sehr gut“) bis 6 („sehr schlecht“) hatte der Vorschlag, das Neutrum für geschlechtsneutrale Personenbezeichnungen zu verwenden, eine Durchschnittsnote von 3,86, wohingegen der Vorschlag, neue geschlechtsneutrale Artikel in die deutsche Sprache einzuführen, die eindeutig bessere Durchschnittsnote 1,94 erreichte. Auch wenn die 500 Teilnehmerne dieser Umfrage sicher nicht repräsentativ für alle Deutschsprachigen waren, gibt die Umfrage doch einen bedeutenden Hinweis darauf, welche Art von Lösung bei Deutschsprachigen mit Interesse an geschlechtsneutraler Sprache beliebt wäre.

Zum Vorschlag des Entgenderns nach Phettberg, geschlechtsneutrale Substantive auf -y enden zu lassen, sei noch angemerkt, dass diese Form für viele zu verniedlichend klingt und sich in einer von uns durchgeführten Umfrage gegenüber anderen Formen disqualifiziert hat. Der auf dieser Seite mehrmals erwähnte Vorschlag, die bisher maskuline Grundform geschlechtsneutral zu interpretieren und gleichzeitig für die männliche Bedeutung eine neue Form einzuführen, hat unseres Erachtens ebenfalls mehrere Probleme, die wir auf einer gesonderten Seite erläutern.